Lokaltermin (Stanisław Lem)

Lokaltermin (Originaltitel: Wizja Lokalna) ist ein Roman von Stanisław Lem aus dem Jahr 1982, in dem der Weltraumpilot Ijon Tichy die Hauptrolle spielt. Die deutsche Übersetzung von Hubert Schumann erschien 1985 zeitgleich bei Volk und Welt und im Insel-Verlag.

Lem strebte mit der Textform des Buchs „...die Erlangung eines großen Palimpsestes“ an: die Geschichte verschiedener Zivilisationen auf einem fremden Planeten (der „Entia“) sollte aus zahlreichen, völlig unterschiedlichen und widersprüchlichen Perspektiven betrachtet werden, vergleichbar mit dem Beschreiben der Geschichte Europas „...mit Hilfe chinesischer, Stalinscher, amerikanischer und Hitlerscher Berichte.“[1] Diesen Effekt erzielt Lem mit dem Besuch seines Helden Ijon Tichy im „Institut für Geschichtsmaschinen“, in denen die Entwicklung extraterrestrischer Zivilisationen simuliert wird, um trotz der großen Entfernungen und der eingeschränkten Kommunikation eine Art diplomatischen Austauschs pflegen zu können.

Die simulierten Geschichtsschreibungen widersprechen einem von Tichys Reiseberichten aus den Sterntagebüchern: statt auf der Entia habe er sich nur auf einem die Entia umkreisenden Vergnügungssatelliten aufgehalten und von den tatsächlichen Verhältnissen auf der Entia nichts erfahren. Die Darstellung der Geschichtsmaschinen bleibt aber widersprüchlich und wenig erhellend. Das „Palimpsest“ lässt aber erkennen, dass auf der Entia zwei ideologisch massiv unterschiedliche Gesellschaftsmodelle nebeneinander existieren. Mit der Reise Tichys zur Entia werden beide Systeme ausführlich dargestellt. Dieser Teil des Buches beschäftigt sich vor dem Hintergrund der beiden Gesellschaftsmodelle mit der von Lem häufig bearbeiteten Frage, ob und wie eine Gesellschaft das allgemeine Glück erschaffen könne.

Handlung

Nach seiner Rückkehr zur Erde fährt Tichy zum Urlaub in die Schweiz, wo er von einer Behörde (dem Ministerium für Außerirdische Angelegenheiten) erfährt, die sich der extraterrestrischen Diplomatie verschrieben hat und mit Batterien von Computern (den Geschichtsmaschinen) versucht, die Zivilisationen ferner Völker und Planeten sowie deren diplomatische Beziehungen zur Erde zu simulieren.

In seinen Sterntagebüchern hat Tichy von seiner Reise zur Entia berichtet, war jedoch nicht auf der Entia selbst, sondern lediglich auf einem die Entia umkreisenden Vergnügungssatelliten gelandet, wie er bei einem Besuch des MfAA erfährt. Auf der Entia spielen zwei Spezies eine zentrale Rolle: Die Entianer sind eine intelligente Spezies, sie bilden die beiden Zivilisationen der Entia (Losannien und Kurdland). Sie sind humanoid, stammen jedoch von Vögeln ab. Die andere relevante Spezies der Entia sind die Kurdel, riesige Echsen, die insbesondere von der kurdländischen Zivilisation auch als Wohnstätten genutzt werden. Die höchst widersprüchlichen Betrachtungen und Analysen zu den entianischen Kulturen bestärken Tichy im Entschluss, selbst zur Entia zu reisen.

Während der Reise unterhält sich Ijon Tichy mit den Persönlichkeitskopien von Karl Popper, Paul Feyerabend, Bertrand Russell und zuletzt William Shakespeare.

Nach seiner Landung in einem Sumpf erkennt Tichy, dass er in Kurdland angekommen ist. Kurz darauf begegnet er einem Kurdländer, der zwar unter primitiven Bedingungen im Sumpf lebt und darüber hinaus entflohener Strafgefangener aus einem „Zuchtkurdel“ ist, die kurdländische Kultur jedoch voller Überzeugung lobt und die losannische Überflussgesellschaft ablehnt, obgleich er dort gerade einen Doktor in Astrophysik gemacht hatte. Tichy verlässt den Kurdländer, um nach Losannien zu gelangen und wird bei seiner Ankunft entführt. Seine Entführer versuchen, ihn unter pathetischen Rechtfertigungsreden zu töten, was ihnen aber nicht gelingt. Grund ist die „Ethosphäre“: eine von der losannischen Kultur geschaffene Technologie, die die komplette Umwelt dahingehend verändert hat, dass unethische Handlungen unmöglich werden. Das Welt wurde von einem ...„unfreundlichen in ein absolut freundliches Universum“[1] verwandelt, anderen Individuen zu schaden ist unmöglich. Bewirkt wird das durch die „Gripser“, subatomare Bestandteile der so geschaffenen Ethosphäre, die die gewöhnliche Materie vollständig durchdrungen bzw. ersetzt haben.

Die Ethosphäre verhindert Schädigungen von Individuen in quasi naturgesetzlicher Weise: es ist schlicht nicht möglich, beispielsweise jemanden zu töten, da die Umwelt jegliche Versuche vereitelt. Die losannische Kultur hat so eine Gesellschaft geschaffen, die einerseits im Überfluss lebt und in der niemand geschädigt werden kann, in der andererseits Individuen unter der damit einhergehenden Entmündigung leiden und die gefühlte Allmacht der Ethosphäre zunehmend für Misstrauen sorgt.

Nach seiner Befreiung wird Tichy in Losannien willkommen geheißen, trifft unterschiedliche Vertreter der losannischen Gesellschaft, lernt die Geschichte der Kultur kennen sowie die Prozesse, die zur Entwicklung der Gripser und der Ethosphäre führten. Dabei stellt sich heraus, dass die Gripser ursprünglich als Waffe entwickelt wurden und in einem nicht als solchem erkennbaren Kryptokrieg eine dritte Zivilisation auf dem Kontinent „Clivia Nigra“ vernichtet hatten. Mit einem losannischen Gefährten reist er anschließend zurück nach Kurdland, wo sie von einem Kurdel verschluckt werden. Mit dem gemeinsamen Aufenthalt im Inneren eines solchen „Staatsschreitwerks“ endet das Buch.[2]

Siehe auch

  • Ijon Tichy: Raumpilot, Fernsehverfilmung

Literatur

  • Stanisław Lem: Lokaltermin. Roman (= Phantastische Bibliothek. Band 200). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-37955-0. , 2013: ISBN 3518743260
  • Matthias Schwartz: Silberlöffel und andere Aborte. Marginalien zu Stanisław Lems »Lokaltermin«, in: Jacek Rzeszotnik (Hg.): Ein Jahrhundert Lem. 1921–2021. Dresden 2021, S. 121–140.

Einzelnachweise

  1. a b Stanisław Lem: Lem über Lem : Gespräche. 1. Auflage. Insel, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-458-14511-7, S. 88 f. 
  2. Stanisław Lem: Lokaltermin. 1. Auflage. [Frankfurt (Main)] 1987, ISBN 978-3-518-37955-4. 
Werke von Stanisław Lem

Science-Fiction-Werke: 1946 Człowiek z Marsa (dt. Der Mensch vom Mars, 1989) | 1951 Astronauci (dt. Der Planet des Todes / Die Astronauten, 1954) | 1955 Obłok Magellana (dt. Gast im Weltraum, 1956) | 1957 Dzienniki gwiazdowe (dt. Sterntagebücher, 1961) | 1959 Eden (dt. Eden, 1960) | 1961 Solaris (dt. Solaris, 1972) | 1961 Pamiętnik znaleziony w wannie (dt. Memoiren, gefunden in der Badewanne, 1974) | 1961 Powrót z gwiazd (dt. Transfer / Rückkehr von den Sternen, 1974) | 1964 Niezwyciężony (dt. Der Unbesiegbare, 1967) | 1964 Bajki robotów (dt. Robotermärchen, 1969) | 1965 Cyberiada (dt. Kyberiade, 1983) | 1968 Opowieści o pilocie Pirxie (dt. Pilot Pirx, 1978) | 1968 Głos Pana (dt. Die Stimme des Herrn, 1981) | 1969 Opowiadania (dt. Nacht und Schimmel, 1972) | 1971 Kongres futurologiczny (dt. Der futurologische Kongreß, 1974) | 1976 Maska (dt. Die Maske, 1978) | 1981 Golem XIV (dt. Also sprach Golem, 1984) | 1982 Wizja Lokalna (dt. Lokaltermin, 1985) | 1986 Pokój na ziemi (dt. Der Flop / Frieden auf Erden, 1986) | 1987 Fiasko (dt. Fiasko, 1986) |

Verschiedene: 1951 Jacht „Paradise” (Theaterstück, mit Roman Hussarski) | 1955 Szpital przemienienia (dt. Die Irrungen des Dr. Stefan T. / Das Hospital der Verklärung, 1959) | 1957 Dialogi (dt. Dialoge, 1980) | 1959 Śledztwo (dt. Die Untersuchung, 1975) | 1964 Summa technologiae (dt. Summa technologiae, 1976) | 1968 Filozofia przypadku (dt. Philosophie des Zufalls, 1983 / 1985) | 1968 Wysoki Zamek (dt. Das Hohe Schloß, 1974) | 1970 Fantastyka i futurologia (dt. Phantastik und Futurologie, 1977 / 1980) | 1971 Doskonała próżnia (dt. Die vollkommene Leere, 1973; Das absolute Vakuum, 1984) | 1973 Wielkość urojona, (dt. Imaginäre Größe, 1976) | 1976 Katar(dt. Der Schnupfen 1976) | 1978 Rozprawy i szkice, (dt.  aufgeteilt auf Sade und die Spieltheorie, 1986; Über außersinnliche Wahrnehmung, 1987; Science-fiction: ein hoffnungsloser Fall mit Ausnahmen, 1987) | 1980 Prowokacja, (dt. Provokation, 1981) | 1983 One Human Minute, (dt. Eine Minute der Menschheit, 1983) | 1983 Weapon Systems of the 21st Century or the Upside Down Evolution, (dt. Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, 1983) | 1983 The World as Holocaust, (dt. Das Katastrophenprinzip, 1983) | 1992 Die Vergangenheit der Zukunft | 1996 Tajemnica chińskiego pokoju, (dt. Die Technologiefalle, 2000) | 1999 Bomba megabitowa, (dt. Die Megabit-Bombe, 2003) | 2000 Okamgnienie, (dt. Riskante Konzepte, 2001) | 2003 DyLEMaty | 2006 Rasa drapieżców – Teksty ostatnie | 2009 Sknocony kryminał (posthum) |

Verfilmungen: 1960 Der schweigende Stern | 1963 Ikarie XB 1 | 1968 Solaris | 1972 Solaris | 1974 Die Untersuchung | 1978 Testflug zum Saturn | 2002 Solaris | 2007/2011 Ijon Tichy: Raumpilot

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